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Überwachungskapitalismus

Michael Seibel • Exzerpt zur Diskussion von Shoshana Zuboffs Buch „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“   (Last Update: 02.08.2019)

Zuboff nennt den Gegenstand ihres Buches „Überwachungskapitalismus“ (oder wie es im englischen Origial heißt: „Surveillance Capitalism“.)

Sie hält das unter diesem Begriff versammelte Geschehen für „beispiellos“ und legt äußersten Wert darauf, dass wir dieses Geschehen nicht mit irgendetwas schon Bekannten, Dagewesenen verwechseln. Wir würden es, wie sie meint, sonst entschieden unterschätzen.


Beispiellos bedeutet, dass wir bisher über keine adäquaten Denkmittel verfügen um zu verstehen, was im beschriebenen Geschehen überhaupt vor sich geht. Sie behauptet, dass um uns herum gerade etwas passiert, das uns selbst massiv verändert, ohne dass wir überhaupt die Wirkweise noch das Ausmaß der Veränderung verstehen, die mit uns passiert.


Wenn wir etwas mit unseren erprobten Begriffen verstehen wollen, gehen wir davon aus, dass das Neue, das verstanden werden soll, im Grunde auf einem neuen Niveau etwas Altes wiederherstellt, das wir längst kennen, also z.B. Sachverhalte wie das Wachstum einer Volkswirtschaft, Sachverhalte der Physik, die wir über bekannte Gesetzmäßigkeiten verstehen oder im weitesten Sinn bereits bekannte Muster, die wir in neuen Sachverhalten wiederzuerkennen glauben.


Zuboff nennt als Beispiel von etwas für sie Beispiellosen den Brand ihres Hauses, bei dem so ziemlich alle Handschriften verbrannt sind, die sie in ihrem Leben geschrieben hatte. In der Hoffnung, dass sich der Brand löschen lasse und man alles früher oder später wieder im alten Zustand hätte, hatte sie zunächst versucht, zu retten, was zu retten war. Es dauerte geraume Zeit, bis ihr klar wurde, dass sie das Feuer unterschätzt hatte, dass ihre Manuskripte und das ganze Haus nicht zu retten waren.


Ein solcher zunächst misslingender Verstehensversuch hat zwei Charakteristika: Man steht vor etwas Beispiellosem, für das Erfahrung und Begriffe fehlen und statt sich über dies Fehlen klar zu werden, versucht man ein Verständnis mit hergebrachten, aber ungeeigneten Mitteln, hier etwa der Vorstellung „ich muss noch ein Dutzend mal ins brennende Haus, dann habe ich meine Manuskripte gerettet“.

Dass geeignete Begriffe schlichtweg fehlen, um zu verstehen, was vor sich geht, kann nicht nur einzelnen Menschen passieren, sondern auch ganzen Gesellschaften. Es kann sich beim Beispiellosen ebenso um eine individuelle, wie um eine kollektive Tatsache handeln. Zuboff geht davon aus, dass der „Überwachungskapitalismus“ eine solche Tatsache darstellt.


Insofern ist natürlich völlig unklar, ob die Bezeichnung „Überwachungskapitalismus“ von Zuboff überhaupt richtig gewählt ist. Damit ist ja bereits ein Verständnis behauptet, das so zunächst noch gar nicht vorliegt.


Was rechtfertigt also diesen sichtlich polemischen Begriff zu verwenden, diese Zusammensetzung aus Überwachung und Kapitalismus?


„Überwachungskapitalismus beansprucht einseitig menschliche Erfahrung als Rohstoff zur Umwandlung in Verhaltensdaten. Ein Teil dieser Daten dient der Verbesserung von Produkten und Diensten, den Rest erklärt man zu proprietärem Verhaltensüberschuss, aus dem man (...) Vorhersageprodukte fertigt, die erahnen, was sie jetzt, in Kürze oder irgendwann tun. Und schließlich werden diese Vorhersageprodukte auf einer neuen Art von Marktplatz für Verhaltensvorhersagen gehandelt, den ich als Verhaltensterminkontraktmarkt bezeichne.“


„Meine Methode, Sinn in den Strom brodelnder Ereignisse rund um uns zu bringen, besteht darin, die tieferen Muster aus dem Wirrwarr technischer Details und Unternehmensrhetorik herauszuarbeiten. Die Wirksamkeit dieses Ansatzes wird daran zu bemessen sein, in welchem Maße uns diese Karte und ihre Begriffe bei der Ausleuchtung des Beispiellosen behilflich sein und uns zu einem umfassenderen Verständnis der rasanten Ereignisse rund um uns verhelfen können, während der Überwachungskapitalismus seinem langfristigen Ziel der ökonomischen und gesellschaftlichen Vorherrschaft entgegengeht.“


Zuboff beschäftigt sich in ihrem Buch „mit den Grundlagen des Überwachungskapitalismus: seinen Ursprüngen und seiner frühen Entwicklung“, sodann mit dem „historischen Rahmen (...), in dem der Überwachungskapitalismus debütierte und erste Erfolge verbuchen konnte“.


Sie lehnt dabei die gängige Vorstellung ab – und das sollten wir prüfen -, dass Aufstieg und allgemeine Akzeptanz der Praktiken etwa von Google vor allem unserer »Bequemlichkeit« geschuldet sei und der Tatsache, dass die Dienstleistungen kostenlos angeboten werden.


Sie möchte statt dessen gesellschaftliche Bedingungen der Digitalisierung des Alltags nachzeichnen und zeigen, dass es zu einer »Kollision« eines „jahrhundertelangen Individualisierungsprozesses, der unsere Erfahrung als selbstbestimmte Individuen ausgeformt hat“ mit neoliberaler Marktwirtschaft gekommen ist, die „unser Selbstwertgefühl als auch unser Bedürfnis nach Selbstbestimmung“ seit langem ständig frustriert.


Der Bequeme ist der Frustrierte, und er wäre nicht so bequem, wie er sich gibt, wenn er nicht entsprechend vorgeschädigt wäre.


„Die schmerzliche Erfahrung dieses Widerspruchs gebar die Bedingungen, die uns überhaupt erst, schwer angeschlagen und auf der Suche nach Beistand, ins Internet fliehen ließen, wo wir uns dann auf das drakonische Quidproquo des Überwachungskapitalismus getrimmt sahen.“


Im Detail möchte Zuboff die eigentliche Entwicklung des Überwachungskapitalismus durch Google beschreiben „wo man seine konstituierenden Mechanismen, ökonomischen Imperative und »Bewegungsgesetze« entdeckt und weiterentwickelt hat.“


Von ihrem Börsengang bis 2016 kletterte der Börsenwert von Google und Facebook unaufhaltsam: Google verfügte Ende 2016 über eine Marktkapitalisierung von 532 Milliarden Dollar, Facebook war 332 Milliarden wert; Google hatte dabei nie mehr als 75 000 Angestellte, Facebook nie mehr als 18 000. General Motors brauchte vierzig Jahre, um 1965 seine höchste Marktkapitalisierung von 225,15 Milliarden zu erreichen; in jenem Jahr beschäftigte das Unternehmen 735 000 Frauen und Männer. GM beschäftigte selbst auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise der 1930er-Jahre mehr Menschen als Google oder Facebook auf dem Höhepunkt ihrer Marktkapitalisierung.


Sie legt Wert darauf zu betonen, dass Googles Erfolg zwar bei einer technischen Lösung zur Bereitstellung von Internetinhalten angesetzt hat, aber dennoch nicht in erster Linie ein technischer ist, sondern dass neue Formen sozialer Beziehungen erfunden und als Fakten durchgesetzt werden,

„allen voran seine fundamentale Missachtung jeglicher Grenzen hinsichtlich unserer Intimsphäre und der moralischen Integrität des autonomen Einzelnen. Vielmehr bestanden die Überwachungskapitalisten – um einer einseitigen Überwachung und der eigenmächtigen Ausbeutung menschlicher Erfahrung zum Vorteil Dritter willen – auf ihr Recht, nach Belieben einzufallen in seine Intimsphäre und ihn seines Rechts auf Selbstbestimmung zu berauben.“


Zuboff geht in ihrer Kritik am Überwachungskapitalismus davon aus, dass es zwei Werte gibt, die gefährdet sind, für die es sich zu kämpfen lohnt und die unbedingt gewährleistet werden müssen, die Intimsphäre nämlich und die Selbstbestimmung des Einzelnen.

Als reflektierter Mensch überlässt sie die Wertschätzung für diese beiden Begriffe nun nicht dem Gefühl, setzt sie also nicht philosophisch unbestimmt voraus, sondern gibt beiden auf unterschiedliche Weise eine Bestimmung mit auf den Weg, die plausibel machen soll, warum es sich lohnt, um ihren Erhalt zu kämpfen und wie sich begrifflich fassen lässt, was da eigentlich bedroht ist.


»Kann die digitale Zukunft uns eine Heimat sein?«


„Heimat ist, wo wir Menschen kennen und wo wir den Menschen bekannt sind, wo wir lieben und wo wir geliebt werden. Heimat ist Souveränität, Stimme, Beziehungen und Freistatt – teils Freiheit, teils Entfaltung, teils Zuflucht, teils Chance. “ 1


Sie macht allerdings aus Heimat ein Grundingredienz der „Natur des Menschen“. Heimat wird bei ihr zur biologistisch gefärbten Metaphysik und mithin zur gefühlsschwangeren, verkitschten Ideologie, mit der Sie vermutlich den us-amerikanischen Common sense bedient. Bei uns sang man einst von der „Rasenbank am Elterngrab“. Dass das Bedürfnis nach einer Heimat „uns allen gemeinsam“ sei, ist ideologiekritisch gesehen eine petitio principi. Erstens ist es empirisch wahrscheinlich falsch und selbst wenn es richtig wäre, ließe sich daraus kein einziges Argument ableiten, das auch nur die geringste Chance hätte, für jedermann verbindlicher zu sein als die Gründe des israelischen Siedlungsbaus im Palästinensergebiet für einen Palästinenser, so plausibel sie einem Israeli erscheinen mögen.


Was allerdings auch mich überzeugt: der Begriff Heimat ist heute unbestreitbar als Problemtitel relevant ebenso wie die Engführung von Heimat und Intimität. Er taugt damit als ein allerdings immer individuell biographisch wie kollektiv historisch mit Material zu füllender Inbegriff all dessen, was überhaupt wert ist, bewahrt zu werden – was, wie man weiß, extrem verschieden ausfällt, je nachdem, wen man wann fragt. Insofern ist die Vermutung, dass uns überspitzt gesagt Google heimatlos machen könnte, von vorn herein ziemlich wackelig. Aber das weiß Zuboff bei allem daneben geratenen Kitsch selbst sehr gut.


Sucht der Heimatbegriff bei der Bestimmung des Erhaltenswerten sozusagen rückwärtsgewandt nach dem, was sich aus der Vergangenheit zu bewahren lohnt, so orientiert sich der Begriff der Selbstbestimmung in die andere Richtung und fragt nach meinen gegenwärtigen und zukünftigen Wahlmöglichkeiten. Den Anspruch auf Selbstbestimmung denkt Zuboff klar als historisch gewachsenes Ergebnis.2 Den der Heimat hingegen nur bedingt.


Von staatlicher Seite kommt dem Übergriff Googles auf unsere Privatsphäre das Fehlen eines entsprechenden gesetzlichen Schutzrahmens entgegen, sowie „die Deckungsgleichheit der Interessen von Überwachungskapitalismus und Überwachungsstaat sowie die Hartnäckigkeit, mit der das Unternehmen seine neu eroberten Gebiete verteidigte.“


„Schließlich erstellte Google ein taktisches Regelwerk, das für die Institutionalisierung seiner überwachungskapitalistischen Operationen als beherrschende Form des Informationskapitalismus sorgte und damit neue Wettbewerber in den Wettlauf um Überwachungserträge zog.“


Bisheriges Ergebnis sind ein expandierendes Universum von Wettbewerbern, die mehr oder weniger nach dem gleichen Muster vorgehen wie Google und eine radikale Ungleichverteilung von Wissen sowie vor allem eine nie dagewesene Privatisierung des Wissens.


Sodann möchte Zuboff nachzeichnen, wie der Überwachungskapitalismus vom Online-Milieu in die reale Welt wandert. Dort geht es ihrer Meinung nach um einen Wettlauf „um die maximale Gewissheit von Vorhersageprodukten“.


Maximale Gewissheit bestünde, wenn sich „sämtliche Aspekte menschlicher Erfahrung“ überwachen ließen. In diese Richtung geht die gesamte »Personalisierung« im Internet. Endpunkt der Entwicklung wäre es, wenn nicht nur die individuelle Erfahrung des Einzelnen abbildbar wäre, sondern wenn der Informationskapitalismus neben seinen Produktionsmitteln und deren Gebrauch auch noch über Mittel zur Verhaltensmodifikation des Einzelnen verfügte, nach deren Maßgabe sich die Produktion steuern ließe.


„Da die Produktionsmittel im Überwachungskapitalismus neuen und komplexeren Verhaltensmodifikationsmitteln untergeordnet sind, zielen neue automatisierte Protokolle darauf ab, menschliches Verhalten in einer wirtschaftlich interessanten Größenordnung zu beeinflussen und zu verändern.“

Dafür nennt Zuboff Beispiele: „Facebooks »Contagion Experiments«, Studien zur Ausbreitung von Emotionen in Netzwerken3 , und bei dem von Google ausgebrüteten »Reality-Game« Pokémon Go.“


Was sagt es, wenn Techniken zur Modifikation des Massenverhaltens für die amerikanische Gesellschaft noch vor wenigen Jahrzehnten als Bedrohung unserer individuellen Autonomie und unserer demokratischen Ordnung abgelehnt wurden, aber heute kaum noch auf Widerstand stoßen?


„Wenn der Industriekapitalismus einen gefährlichen Bruch mit der Natur konstituierte, welchen Schaden könnte die menschliche Natur, das menschliche Wesen, durch den Überwachungskapitalismus nehmen?“


Es gibt zunehmend eine allgegenwärtige, wahrnehmungsfähige, vernetzte rechnergestützte Infrastruktur, die Zuboff als Big Other (das Große Andere) bezeichnet. In diesem Instrumentalismus sieht Zuboff eine beispiellose neue Art von antidemokratischer Macht, die sich dem Verständnis sperrt, weil wir bei der Betrachtung durch herkömmliche Optiken weder ihre Andersartigkeit noch ihre Gefahren sehen.

„Der Totalitarismus war die Transformation des Staats zu einem Projekt totaler Vereinnahmung. Der Instrumentarismus und seine Verkörperung in Big Other bedeuten die Verwandlung des Markts in ein Projekt totaler Gewissheit – ein Unterfangen, das außerhalb des digitalen Milieus, aber auch jenseits der Logik des Überwachungskapitalismus schlicht nicht vorstellbar ist.“


„So wie die Industriegesellschaft als gut geölte Maschine gedacht war, hat man sich die instrumentäre Gesellschaft als Humansimulation von Maschinenlernsystemen vorzustellen: ein konfluierendes Schwarmgehirn, in dem jedes Element im Verein mit jedem anderen Element lernt und funktioniert. In diesem Modell maschineller Konfluenz ist die »Freiheit« jeder individuellen Maschine dem Wissen des ganzen Systems untergeordnet. Instrumentäre Macht zielt darauf ab, die Gesellschaft im Sinne einer der maschinellen ähnlichen sozialen Konfluenz zu organisieren, zusammenzutreiben und aufeinander abzustimmen. Gruppendruck und rechnerische Gewissheit ersetzen Politik und Demokratie; die gefühlte Realität wird dadurch ebenso ausgelöscht wie die soziale Funktion der individualisierten Existenz. Die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaften erfahren vieler dieser destruktiven Dynamiken bereits heute in ihrer Bindung zu den sozialen Medien; wir können hierin das erste weltweite Experiment in Sachen Menschenschwarm sehen.“


Menschenschwarm? Ist das wirklich so neu?


Zuboffs These ist: Der Überwachungskapitalismus weicht auf überraschende Weise von der Geschichte des Marktkapitalismus ab, insofern er gleichzeitig sowohl die uneingeschränkte Freiheit als auch das totale Wissen fordert. Er nimmt mit anderen Worten Abstand von den Reziprozitäten zwischen Kapitalismus und Mensch bzw. Kapitalismus und Gesellschaft und erzwingt eine totalisierende kollektivistische Version des Lebens im Schwarm. Der Überwachungskapitalismus beansprucht tendenziell totale Herrschaft über die menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Sphären hinaus, die traditionell nicht in das Territorium der privaten Unternehmung oder des Markts fallen. Infolgedessen lässt sich laut Zuboff der Überwachungskapitalismus am besten als Putsch von oben beschreiben; es ist „kein Umsturz des Staats, sondern vielmehr ein Umsturz der menschlichen Souveränität“. Er betreibt eine „Tendenz zum schleichenden Verfall, die heute die liberalen Demokratien des Westens bedroht. Nur ein entschiedenes »Wir, das Volk …« vermag diese Entwicklung noch umzukehren.“


Es bestand bislang immer ein unauflösbarer Zusammenhang zwischen Freiheit und Unwissenheit. In dem Augenblick, in dem wir von überwachungskapitalistischen Operationen sprechen, ist der »Markt« eben nicht mehr unsichtbar, jedenfalls nicht im Sinne von Hayek und Smith. Der Konkurrenzkampf unter Überwachungskapitalisten zwingt sie in Richtung Totalität.




Anmerkungen:

1 Zuboff:“ Jede Kreatur richtet sich an einer Heimat aus. Das Zuhause ist der Ausgangspunkt, an dem jede Spezies sich orientiert. Völlig unmöglich, uns ohne diese Ausnordung in einer Terra incognita zu orientieren; ohne sie sind wir verloren. Daran erinnert mich jedes Frühjahr das Seetaucherpärchen, das von seiner weiten Reise in sein Nest unter unserem Fenster zurückkehrt. Die eindringlichen Schreie, mit denen die beiden Heimkehr, Erneuerung, Verbundenheit und Geborgenheit feiern, lassen uns abends in der Gewissheit einschlafen, dass auch wir dort sind, wo wir hingehören. Die Grüne Meeresschildkröte bahnt sich nach dem Ausschlüpfen ihren Weg ins Meer, wo sie zehn, zwanzig Jahre lang Tausende von Kilometern zurücklegt; nach Erreichen der Geschlechtsreife findet sie zum Ablegen der Eier zurück an den Strand, an dem sie geboren wurde. Es gibt Vögel, die jedes Jahr Tausende von Kilometern zurücklegen und dabei die Hälfte ihres Körpergewichts verlieren, nur um sich am Ort ihrer Geburt zu paaren. Vögel, Bienen, Schmetterlinge … Nester, Bauten, Bäume, Seen, Stöcke, Hügel, Senken, Gestade … so gut wie jede Kreatur verfügt über die eine oder andere Spielart tiefer Verbundenheit mit einem Ort, mit dem sie die Vorstellung eines guten Lebens verbindet, mit einem Zuhause, wie wir sagen würden.
Es liegt in der Natur menschlicher Ortsverbundenheit, dass jede Reise, jede Vertreibung die Suche nach einem Zuhause auslöst. Dass dieser nóstos, diese Heimkehr, eines unserer tiefsten Bedürfnisse ist, wird deutlich in dem Preis, den wir dafür zu zahlen bereit sind. Uns allen ist eine schmerzliche Sehnsucht nach der Rückkehr an den Ort gemein, den wir verlassen haben, oder danach, eine neue Heimat zu finden, in der unsere Hoffnungen für die Zukunft nisten und sich entfalten können. Noch heute lesen und erzählen wir von den Prüfungen des Odysseus, auf dass wir nicht vergessen, was Menschen zu opfern, was sie zu ertragen bereit sind, um ihre heimischen Gestade zu erreichen und durch ihr eigenes Tor zu gehen.“

2 Zuboff: „Wie von zahlreichen Wissenschaftlern festgestellt, kam die Vorstellung vom Einzelnen als selbstbestimmtem moralischem Subjekt zuerst im Westen auf, wo die Bedingungen für seine Herausbildung früher als anderswo gegeben waren. Halten wir außerdem fest, dass das Konzept der »Individualisierung« nicht zu verwechseln ist mit der neoliberalen Ideologie des »Individualismus«, die jegliche Verantwortung für Erfolg und Scheitern auf ein mythisches, vereinzeltes und isoliertes Individuum abwälzt, das sich, entkoppelt von Beziehungen, Gemeinschaft und der Gesellschaft an sich, zu einem Leben unaufhörlichen Wettbewerbs verurteilt sieht. Ebenso wenig hat der Begriff mit dem psychologischen Prozess der »Individuation« zu tun, der den lebenslangen Prozess der Selbstentwicklung bezeichnet. Individualisierung ist dagegen eine Folge säkularer Modernisierung und ein untilgbares Motiv zeitgenössischen Lebens.
Bis in die jüngste Vergangenheit der Menschheitsgeschichte war jedes Menschenleben durch Abkunft, Ort, Geschlecht, Stand und Religion vorherbestimmt. Ich bin die Tochter meiner Mutter; ich bin meines Vaters Sohn. Die Auffassung vom Menschen als Individuum entwickelte sich allmählich im Lauf der Jahrhunderte im langen Kampf gegen diese alten Vorstellungen. Vor etwa 200 Jahren schlugen wir den Weg in die Erste Moderne ein, in der das Leben nicht mehr nach den Leitwerten vormoderner Traditionen von einer Generation auf die andere weitergereicht wurde. Diese Erste Moderne markiert die Zeit, in der sich das Leben einer großen Zahl von Menschen zu »individualisieren« begann. Das bedeutete, dass jedes Leben zu einer eigenen Realität mit unbestimmtem Verlauf wurde, etwas, was es zu entdecken, nicht ein Skript, dem es zu folgen galt. Selbst dort, wo die traditionelle Welt bis heute für viele intakt geblieben ist, lässt sie sich nicht mehr als die einzig mögliche Geschichte erfahren. “

3 Im Zuge einer kürzlich veröffentlichten Studie “Experimental evidence of massive-scale emotional contagion through social Networks”, die Facebook 2012 gemeinsam mit der Cornell University durchführte, hat Facebook einen Menschenversuch mit 689003 Usern durchgeführt.
Die Forschungsfrage: Was passiert, wenn man das Ausmaß von positiven bzw. negativen Äußerungen in den Timelines und Newsfeeds der User erhöht? Das Ergebnis: Wer mehr positives liest, postet mehr positives. Wer mehr negatives liest, postet negativer. Die ahnungslosen Probanden äußerten sich im Schnitt um 3% besser oder schlechter gelaunt. Damit ist bewiesen: Gefühle sind ansteckend. Auch im digitalen Raum. Und: die User äußerten sich rein quantitativ mehr, je mehr emotional aufgeladene Infos sie gelesen hatten. Was für ein soziales Netzwerk eine wichtige Information ist. Facebook manipulierte also die Gefühle seiner Nutzer um zu lernen, wie und warum diese aktiver werden.






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